Donnerstag, 14. August 2008

Späte Einsicht

Manchmal ist das so: Es gibt Erinnerungen, die habe ich jahrelang nicht beachtet. Plötzlich drängeln sie sich aus manchmal mehr, manchmal weniger erfindlichen Gründen wieder nach vorne, und ich muss die ganze Zeit daran zurückdenken. So geschehen in den letzten Tagen mit einer Erinnerung an meine Grundschulzeit, vor, sagen wir, etwas mehr als 20 Jahren. Unsere nicht mehr ganz junge und in Bezug auf Medienkonsum moralisch und pädagogisch eher streng eingestellte Klassenlehrerin teilte einmal Blätter aus, auf denen eine Art Comic abgebildet war: Zwei Kinder sehen fern: unschwer an den pelzigen Figuren auf dem Bildschirm zu erkennen, es läuft die "Sesamstraße". Der Vater betritt die gute Stube und mault etwas in Richtung "Ich will jetzt die Nachrichten sehen". Protest bei den Kindern. Soweit die Ausgangssituation. Nun sollten wir unter den dann folgenden Möglichkeiten, welches das letzte Comicbild sein sollte und wie somit dieser elementare Familienkonflikt ausgehen könnte, wählen: Waren wir a) der Meinung, die Kinder sollten, ihren alten Herrn respektierend, sich stillschweigend trollen? Wäre es ferner b) richtig gewesen, wenn Vater anböte: "Ich kann auch nachher die Spätnachrichten schauen"? Oder wäre Version c) am wenigsten fragwürdig, bei der die Familie beschließt, den Fernseher abzuschalten und sich statt dessen in trauter Runde mit einem Gesellschaftsspiel um den Tisch zu setzen? Mir war auch mit meinen damals zarten acht oder neun Jahren durchaus klar, welche Antwort die Lehrerin als einzig richtige durchgehen lassen würde. Aber es hat mir - der "Atomkraft? Nein danke!"-Zeitgeist hatte in bescheidenem Maße abgefärbt - ziemlich widerstrebt, etwas gegen eine fundamentale Überzeugung meinerseits zu tun. Ich liebte die "Sesamstraße". Ich fand es nur bewunderns- und unterstützenswert, wenn ein Vater seinen Kindern, die die "Sesamstraße" ebenfalls lieben, den Vorrang ließ und auf die Spätnachrichten auswich. Also kreuzte ich diese Version an. Ich nahm dafür sogar Kommentare wie "Oh, bist du doof" von seiten meiner Mitschüler in Kauf. Tags darauf kam das Blatt zurück zu mir mit einem fetten roten "falsch", und das Bild mit dem ollen Gesellschaftsspiel war als richtig angekreuzt. Ich mochte ja auch Gesellschaftsspiele, aber da ich diese meistens verlor und mich darüber immer furchtbar aufregen musste, eben nicht ganz so wie die "Sesamstraße". Meine Grundschullehrerin muss mich deshalb schon halb unter der Brücke gesehen haben. Vorhin wollte meine Tochter nicht einschlafen. Ich hatte eigentlich schon gemerkt, als ich sie ins Bett legte, dass sie noch gar nicht richtig müde war. Das letzte Aufwachen war erst drei Stunden her, und das Nachmittagsschläfchen relativ lange gewesen. Ich habe es trotzdem versucht, aber nach länger anhaltendem Protest sie doch noch einmal aus dem Bett geholt (ja! Ich habe das wirklich getan! Mache ich sonst wirklich auch nie) und im Wohnzimmer auf ihre Spieldecke gelegt. Der Fernseher lief, denn ich hatte bereits angefangen, "Good Advice" mit Charlie Sheen anzusehen. Baby im Wohnzimmer, Fernseher läuft - die Kombination mag ich aber eigentlich gar nicht, das hat was von White Trash und fühlt sich gar nicht richtig an. Also habe ich den Fernseher wieder ausgeschalten, mich zu ihr auf die Decke gesetzt und mit ihr noch etwas gespielt. Dabei hatte ich den Gedanken: "Dann eben heute kein Film". Und musste wieder an meine Grundschullehrerin denken. Sie wäre richtig stolz auf mich gewesen. Ich werde langsam alt. Gerade läuft: April March - Chick Habit

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass wir beide wohl die gleiche Grundschullehrerin hatten. Ich wage mich nämlich auch an ein Aufsatzthema zu erinnern, das mir bis heute im Hirn spukt.
Der Satz „Mein schönster Tag!“ sollte unsere Erzähltechnik auf die Probe stellen. Ich malte mir diesen sehr dionysisch aus: Eine wahnsinnig lustige Geburtstagsfeier mit all meinen Freunden, der irgendwann derart wild ausartet, dass alle gemeinsam auf den Tischen tanzen und sich mit Spaghetti bewerfen. Um mich, wie Du bereits schon richtig erkannt hast, gegen den „Atomkraft?-Nein Danke!“-Zeitgeist abzusichern, ließ ich meine Protagonistin dann plötzlich aufwachen und erkennen, dass es sie das ganze nur geträumt hatte. Ich bekam mit der Begründung „Mit Essen spielt man nicht“ trotzdem eine Fünf!! Nicht einmal meinen Vorwurf, dass es sich um reine Fiktion handelte und meine große Heldin Pipi Langstrumpf noch viel Schlimmeres in ihrer Villa anstellt, erhörte sie. Die Note ließ sich – Hey, es war zudem doch extra nur ein TRAUM!! – einfach nicht wegargumentieren, da jemand wie unsere Lehrerin, die selbst noch den Ersten Weltkrieg miterlebt hatte, wusste, was wirklicher Hunger bedeutet. Aber eines wusste sie nicht: Dass Kinder mit zehn Jahren schon über eine verdammt ausgeprägte Selbstreflexion verfügen und sich auf immer an solche Geschichten erinnern werden. Liebe Single Mom, pass daher auf, welche Geschichten Du Deiner kleinen Tochter erzählst. Sie durchschaut uns eh alle, wie wir damals schon unsere Lehrer durchschaut hatten!

caducità hat gesagt…

Ja, das weiß ich sogar auch noch, als wär's gestern gewesen! Du hast, wie immer, absolut recht. Erster Weltkrieg ist wohl das richtige Stichwort. Wie hat mich das unbewusst geprägt! Wie lange habe ich gebraucht, das richtig zu reflektieren! Also hoffe ich sogar, meine Tochter wird diesbezüglich etwas fixer sein als ich ;)